1.1 Entstehung, Bedeutung, Definition
1.1.1 Die Entstehung und Entwicklung von Online-Communities
Communities waren schon lange Zeit vor der Erfindung des Internets Gegenstand der
sozialwissenschaftlichen Forschung. Als einer der ersten Community-Forscher gilt Ferdinand
Tönnies, der bereits 188720 in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ eine
Gemeinschaft21 als private und exklusive Lebensgemeinschaft definierte und von der
Gesamtgesellschaft, dem öffentlichen Leben, abgrenzte.22 Solche realen, oftmals als „Face-to-
Face-Communities“ bezeichneten, Gemeinschaften wurden seither in den unterschiedlichsten
Forschungsdisziplinen untersucht.23 Man findet solche Communities heute überall im
täglichen Leben, bspw. in Unternehmen, Schulen, Universitäten, Vereinen oder im
Freundeskreis. Allerdings verzeichnet vor allem die Community-Form Verein seit Mitte der
1970er Jahre einen rapiden Rückgang an Mitgliedern.24
Im weiteren Verlauf der Arbeit sollen allerdings solche Communities, die rein auf physischen
Treffen und zeitlich synchronem Austausch unter ihren Mitgliedern in der realen Welt
basieren,25 oder Mischformen, bei denen zwar der Austausch online erfolgt, aber das
gemeinsame Interesse die geographische Nähe ist,26 nicht weiter untersucht werden. Von
Interesse sind virtuelle Communities, die in erster Linie über das Internet und nicht räumlich
miteinander verbunden sind und die im weiteren Verlauf als Online-Communities (OCs)
bezeichnet werden.27 Dabei sollen physische Treffen zwischen Mitgliedern allerdings nicht
grundsätzlich ausgeschlossen sein, sondern lediglich nicht das Hauptmotiv für die Teilnahme
an der OC darstellen. „Online“ drückt aus, dass der virtuelle Standort der Community im
Internet liegt. Die Kommunikation zwischen Mitgliedern erfolgt in erster Linie asynchron,
bspw. per E-Mail oder über ein Nachrichtensystem innerhalb der OC.28 Häufig verfügen OCs
zusätzlich über einen synchronen Kommunikationskanal wie Chat, der ein hilfreiches
Instrument zur Förderung von sozialen Bindungen zwischen Mitgliedern darstellt. Die
räumliche und zeitliche Unabhängigkeit führt bei OCs zu einer erhöhten Flexibilität und ist
daher für den Wissensaustausch von besonderer Bedeutung.29
Bereits im Jahr 1962 begann eine kleine US-Forschergruppe mit der Entwicklung eines ersten
dezentralen Computernetzwerks.30 Dabei stand vor allem die Frage im Vordergrund, wie man
die geringen Rechenkapazitäten und den Datenaustausch zwischen einzelnen Hochschulen
besser nutzen könnte. Im September 1969 wurde mit dem ARPANET, zunächst auf Basis von
vier Rechnern, das erste dezentrale Netzwerk und der Vorläufer des Internets in Betrieb
genommen.31 1971 entwickelte das gleiche Team das Kommunikationsinstrument E-Mail.32
Online-Services und virtuelle Communities sind keine neue Erfindung. Bereits 1979 bot das
Unternehmen Compuserve den ersten E-Mail-Dienst an,33 Mitte der 80er Jahre folgte AOL
mit Online-Diensten für den Computer Commodore C64.34 Usenet ist eine 1979 aus der
Verbindung zweier Unix-Rechner entstandene Frühform des elektronischen
Kommunikationsforums und somit ein Vorläufer virtueller Communities. 1991 ermöglichte
die Entwicklung des ersten Web-Browsers und der HTML-Syntax durch Tim Berners-Lee das
Surfen im „World Wide Web“.35 Infolge dessen etablierten sich Online-Dienste wie E-Mail
als globale Standards.36 Mit dieser Entwicklung wurden bestehende IT-Netzwerkstrukturen
und Telekommunikationssysteme zu einer neuen öffentlichen und weltweiten
Interaktionsplattform zusammengeführt. Ende März 2011 verfügten weltweit über zwei
Milliarden Menschen über einen Zugang zum Internet.37 Eine entscheidende Vorrausetzung
für die Herausbildung und das Wachstum von OCs auf der Basis computergestützter
Kommunikation (CMC) bestand in der Entwicklung und Verbreitung des Internets.38
Als eine der ersten OCs kann man das 1985 gegründete, netzbasierte Diskussionsforum „The
Well“ betrachten.39 Der Begriff „Online-Communities“ wurde 1984 erstmals von Starr
Roxanne Hiltz in ihrer Fallstudie zum Büro der Zukunft verwendet.40 Sie untersuchte
computerbasierte Konferenzsysteme als Form von Kollaborationsgemeinschaft unter
Experten und erkannte bereits den hohen Stellenwert sozialer Komponenten in solchen
Netzwerken.
1993 beschrieb Howard Rheingold in seinem Buch „Virtual Communities“ diese erstmals
detailliert und setzt Communities und die virtuelle Welt des Internets miteinander in
Beziehung.41 Während Rheingold virtuelle Gemeinschaften als eher zufällig entstehendes
soziales Phänomen definierte, formulierten Hagel und Armstrong 1997 als erste den
kommerziellen Wert von OCs und verknüpften damit den Ansatz für ein neues
Geschäftsmodell.42 Mitte der 1990er Jahre setzte ein starkes Wachstum des Internets ein,
Onlinezugänge wurden durch den aufkommenden Wettbewerb zwischen den Anbietern
günstiger,43 Modems schneller und erste Shop-Communities, wie eBay und Amazon
entstanden.
Das Unternehmen ID Media begründete 1998 mit „Cycosmos“ eine der ersten deutschen OCs
für Konsumenten mit Ansätzen eines sozialen Netzwerkes.44 Trotz mehr als 800.000
Mitgliedern und täglichem Zuwachs im vierstelligen Bereich wurde der Service im Dezember
2001 im Zuge des Internet Crashs wegen zu hoher Kosten und eines fehlenden
Geschäftsmodells eingestellt.45 Im Jahr 2003 starteten in den USA mit „LinkedIn“, einer
Austauschplattform für Geschäftskontakte, sowie dem sozialen Netzwerk „Friendster“ die
ersten OCs der nächsten Generation.46
1.1.2 Online-Communities im Web 2.0
Seit 2004 haben im Web eine Reihe neuer und verbesserter Technologien Verbreitung
gefunden. Gleichzeitig fand eine Veränderung der Nutzungsmuster von Anwendern im
Internet statt. Diese beiden Entwicklungen werden oft mit dem Begriff Web 2.0 verbunden.
Der Begriff entstand eher zufällig, als das Unternehmen O’Reilly Media im Oktober 2004
nach einem marketingträchtigen Titel für eine Web-Entwicklerkonferenz suchte.47 Nach dem
Internet Crash im Jahre 2001 gab es ab 2004 einen massiven Zuwachs von neuen Online-
Portalen und –Services, insbesondere von OCs. Seitdem haben sich OCs als soziale
Netzwerke und Wissensplattformen etabliert. Einige von ihnen gehören zu den meist
besuchten Webseiten des Internets.48
Mit dem Aufkommen des Begriffs Web 2.0 wurde dieses Konzept von einigen als radikale
technologische Wandlung des Internets beschrieben,49 von anderen wiederum als vor allem
soziales Phänomen, eine Art Demokratisierung des Internets50. Heute ist der Begriff
weitgehend im Sprachgebrauch etabliert.51
Die Bezeichnung „2.0“ symbolisiert den Veränderungsschritt. Im Vergleich zu Betriebssystemen
oder PC-Anwendungen, die oftmals mit einer Versionsnummer versehen
werden, hat sich diese Entwicklung aber weniger sprunghaft, wie bei der Veröffentlichung
einer neuen Version, sondern kontinuierlich und evolutionär vollzogen. Der Begriff lässt sich
wie folgt definieren:
Web 2.0 steht für die evolutionäre Entwicklung des Internets zu einem interaktiven,
nutzerzentrierten Netzwerk von Webseiten und Applikationen, das Onlineaktivitäten
von Anwendern, wie Kommunikation, Austausch und Kreation, stimuliert. 52
Das Web 2.0 kann in eine soziale, eine technische und eine kommerzielle Dimension
unterteilt werden.53 Alle drei Dimensionen sind miteinander verbunden und beeinflussen sich
gegenseitig.
Die soziale Dimension zeigt sich in dem veränderten Rollenverhalten von Internetnutzern:
Konsumenten entwickeln sich zu Produzenten und aktiven Co-Designern,54 die auch als
„Prosumer“ bezeichnet werden.55 Der Nutzer hat im „Web 1.0“ vorrangig passiv Inhalte
konsumiert, die vom Betreiber eines Online-Dienstes oder -Portals zur Verfügung gestellt
wurden. Im Web 2.0 wird dieses Rollenverhalten aufgebrochen, indem Nutzer selbst durch
eigene Beiträge, sogenannten „User Generated Content“, das Angebot inhaltlich mitgestalten
können.56 Private Inhalte und Wissen von Nutzern werden im Web öffentlich zur Verfügung
gestellt und mit anderen Teilnehmern geteilt. Beispiele sind die Foto-Community Flickr sowie
die freie Enzyklopädie und Wissens-Community Wikipedia.
Mit Hilfe der technischen Möglichkeiten des Web 2.0 werden die Inhalte zu „Social Media“,
also Medien, die den sozialen Austausch und die Interaktion zwischen Nutzern ermöglichen
bzw. fördern.57 Als Katalysator für die sozialen Veränderungen wirken eine Reihe von
technischen Veränderungen, sowohl auf der Seite des Angebots als auch seitens des Nutzers.
Die Angebotsseite, in Form der verwendeten Webkonzepte und Technologien, ermöglicht
eine neue Form von Kollaboration zwischen Nutzern und dient zur Definition der
technischen Dimension von Web 2.0.58 Diese teilt sich in Technologien zur Kommunikation
und zum Austausch (z.B. Blogs, Community-Software, Podcasts),59 Technologien für einen
einfachen Zugang und eine uneingeschränkte Nutzung (z.B. AJAX, Flash, SOAP) sowie
Technologien zur dezentralen und viralen Verbreitung (z.B. Permalinks, RSS, Tags, APIs).60
Das Web wird zu einer interaktiven Service-Plattform.61
Die kommerzielle Dimension erwächst aus dem Zusammenspiel sozialer und technischer
Aspekte und manifestiert sich in neuen und erweiterten Online-Geschäftsmodellen (z.B.
Auktionsportale, interaktive Werbung, Online-Applikationen)62 und Vermarktungsinstrumenten
(z.B. Mikroshops, virtuelle Verkaufsberater, Blogs, Unternehmensseiten
innerhalb von sozialen Netzwerken wie Facebook).63
Die Anwendung der neuen Technologien und Webkonzepte wird mit dem Anspruch
verbunden, das Online-Erlebnis und den Nutzen für den Konsumenten deutlich zu
verbessern.64 Diese Verbesserung liegt aber nicht allein in dem Angebot selbst, sondern vor
allem in der Ausstattung auf Seite des Nutzers begründet. Leistungsstärkere Computer und
Peripheriegeräte,65 die Verbreitung von schnellen Internetzugängen66 und die zunehmende
Erfahrung im Umgang mit dem Internet bieten erst die Voraussetzung für eine aktivere
Nutzung von Online-Angeboten. Genau betrachtet sind nicht alle genannten Technologien
und Konzepte im Vergleich zum Web 1.0 neu und auch nutzergenerierte Inhalte gab es bspw.
in Foren schon vor der Jahrtausendwende.67 Zunächst war aber die Standardisierung und
Verbreitung von neuen Endgeräten und Kommunikationstechnologien auf der Anwenderseite
eine notwendige Voraussetzung, um umfangreichere und schnellere Web-Angebote einer
breiteren Masse zugänglich zu machen. Der Nutzen von OCs wird desto größer für alle, je
mehr Teilnehmer aktiv werden. Solche Services sind zu den Kritische-Masse-Systemen zu
zählen, da jeweils eine bestimmte Mindestanzahl von Nutzern notwendig ist, bevor die
Vorteile des Dienstes so groß sind, dass die Nutzerzahl überproportional anwächst und eine
schnelle Diffusion im Markt erfolgt.68 Hier wirken Technologien zur dezentralen und viralen
Verbreitung wie ein Trichter: Empfinden Anwender einen Service als nützlich, kann sich die
Verbreitung in kürzester Zeit potenzieren.69
Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass 2009 weltweit über 65 Prozent aller
aktiven Internetnutzer in OCs aktiv waren.70 Für Unternehmen ergeben sich durch das Web
2.0 neue Chancen und Potentiale, wie die Nutzung von OCs als Informationsquelle und als
Instrument, um mit Kunden direkter zu kommunizieren und zu interagieren.71
Infolge der deutlichen Veränderung des Nutzerverhaltens im Web 2.0 kann auch von einem
„Anwender 2.0“ oder einem „Nutzungsmodell 2.0“ gesprochen werden.72 Abbildung 2.1 zeigt
eine Übersicht der Nutzerbedürfnisse und Formen von Anwendermitwirkung im Web 2.0,
wobei ein großer Teil der Aktivitäten in OCs stattfindet. Die vier wesentlichen Aktivitäten
sind „Selbstdarstellung“, das „Speichern und Teilen von Inhalten“, „Kommunizieren“ sowie
Kreativität in Form von „Entdecken und Gestalten“.73
1.1.3 Ausgewählte Definitionen aus der Literatur
OCs sind ein multidisziplinäres Feld.74 Es existieren zahlreiche unterschiedliche Ansätze
sowohl zur Definition als auch zur Kategorisierung von OCs.75 Tabelle II.1 beinhaltet eine
Auswahl von Definitionen des Begriffes „OC“ bzw. der Synonyme „virtuelle Community“
oder „Internet-Community“ aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und mit
variierendem Schwerpunkt. Auch die Veränderung des Begriffsverständnisses seit Beginn der
1990er Jahre, weist auf die rasante Entwicklung und Wandlung der Bedeutung von OCs hin.
Tabelle II.1: Ausgewählte Definitionen des Begriffs Online-Community
Quelle: Eigene Darstellung.
Online-Community als sozialer Austausch
Rheingold (1993):
„Virtual Communities are social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those
public discussion long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationships in
cyberspace. A virtual community is a group of people […] who exchange words and ideas through the mediation
of computer bulletin boards and networks.” (S.57-58)
Schmidt (2000):
„Internet-Communities sind keine Internet-Seiten, auf denen sich Menschen treffen, sondern sie bestehen aus
den Menschen, die sich dort treffen.“ (S.35)
Leitner (2003):
„Eine Online-Community ist eine Gemeinschaft von Menschen, die online (über ein entsprechendes Internet-
Kommunikationssystem) in Kontakt kommen und zur Erreichung bestimmter Ziele kooperieren." (S.17)
Online-Community als Informations- und Wissensaustausch
Kozinets (1999):
„They can be defined as ‘affiliative groups whose online interactions are based upon shared enthusiasm for, and
knowledge of, a specific consumption activity or related group of activities’.” (S.254)
Ridings/Gefen/Arinze (2002):
„Virtual communities are places where people with common interests share knowledge. […] People come to
virtual communities to exchange information - either by providing it to others or by soliciting it from others.
This exchange is based upon the trust the members have in each other, and without this trust the virtual
community there is no exchange and the virtual community will cease to exist.” (S.288)
Reinmann-Rothmeier (2000):
„Informelle Personennetzwerke mit einem einflussreichen ‚Vorreiter-Kern’ und einer lose gekoppelten
Peripherie als strukturellen Rahmen; gemeinsame Interessen und/oder Problemstellungen als ‚Treiber’;
Kommunikation, Kooperation, Erfahrungsaustausch, Wissensschaffung und wechselseitiges Lernen als zentrale
Prozesse; Eigenverantwortung, Selbstorganisation, eine gemeinsame Verständigungsbasis und geteilte
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